Loreleygemeinde Bornich

Kinder zwischen Schul- und Freizeitstress

Morgens um 8 Uhr in Deutschland beginnt für die allermeisten Schülerinnen und Schüler das tägliche Pensum: Mathe, Deutsch, Englisch, Sport - fünf Zeitstunden Schule (inklusive Pausen) hat ein Drittklässler/ eine Drittklässlerin pro Tag, in der sechsten Klasse sind es bereits sechs Schulstunden täglich. Ab dem Ende der Grundschulzeit, wenn die Entscheidung über die weiterführende Schule ansteht, und später dann in der Realschule oder auf dem Gymnasium, führen die schulischen Anforderungen viele Kinder bis an ihre Leistungsgrenze.

Der Schuldruck ist aber längst nicht alles, auch die Freizeit ist durchgeplant: "Also am Montag habe ich Klavierunterricht, am Dienstag und am Donnerstag Fußballtraining und am Wochenende haben wir oft Turniere", erzählt der 9-jährige Tom. So eine Termindichte neben der Schule ist bei vielen Kindern inzwischen der Normalfall. Kathrin (12) beispielsweise besucht mehrere Schul-Arbeitsgruppen und ist deshalb oft bis nachmittags in der Schule. Zusätzlich schwimmt sie noch und macht Ballett. Sogar kleine Kinder haben oft schon ein volles Programm. Weil Eltern befürchten ihr Dreijähriger Spross würde im Kindergarten nicht genug gefördert, wird ein Frühenglisch-Kurs besucht, kreativer Kindertanz gemacht oder ein anderes der zahlreichen Angebote genutzt.

Viele Termine müssen nicht unbedingt Stress bedeuten. Doch häufig ist auch die Freizeit vom Leistungsgedanken durchdrungen: Im Ballett gilt es, bei Aufführungen zu glänzen, beim Fußball muss der Elfmeter ins Tor, damit die Mannschaft das Turnier gewinnt und in der Musikschule steht ein Vorspiel an. Spielen, einfach mal abhängen, nichts tun - das ist bei Kindern und Jugendlichen kaum noch drin.

So gut die Absichten der Eltern meist sind, die Folgen sind mitunter verheerend. Wenn Kinder immer nur funktionieren müssen, warnen Kinderpsychologen, dann können  Phantasie und Kreativität, Eigenständigkeit und Selbstwertgefühl auf der Strecke bleiben. Durch die Leistungserwartung der Eltern und der Schule können Kinder den Eindruck bekommen, dass sie selbst nichts schaffen und nichts können - und das kann psycho-somatische Probleme wie (Ein-)Schlafstörungen, Bauchweh oder Kopfschmerzen bewirken. Oder die Kinder werden nervös und können sich nicht konzentrieren, sind lust- und antriebslos oder haben keinen Appetit.

Eine Forsa-Umfrage im Auftrag der Deutschen Angestellten Krankenkasse vom Sommer 2008 ergab, dass viele Kinder deutliche Stress-Symptome zeigen. Demnach beobachteten fast 60 Prozent der Eltern bei ihren Kindern mangelnde Konzentration, Nervosität oder Überdrehtheit. 43 Prozent der Eltern gaben an, dass ihr Kind häufig traurig ist und sich zurückzieht, bei 42 Prozent reagieren die Kinder aggressiv und gereizt. Jedes zweite Kind leidet regelmäßig unter Bauch- und Kopfschmerzen. Lern- und Leistungsstörungen treten bei jedem dritten Schulkind auf und 20 Prozent haben einen schlechten Schlaf.

"Mit der ganzen Förderei tun die Eltern ihren Kindern in der Regel nichts Gutes", sagte gar der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Bergmann in einem ARD-Interview. Er verwies auf Untersuchungen aus der Lernpsychologie und der Gehirnforschung, die zeigten: "Je freier das Kind aufwächst, je weniger es trainiert und methodisch gefördert wird, desto intelligenter wird es." Begabung brauche nun mal Zeit zu reifen - ohne dass sofort gezielt gefördert werde, erklärte er. Eltern sollten eher schauen, so viel freie und unkontrollierte Handlungsräume zu schaffen wie möglich: "Diese Freiheit brauchen Kinder, um Dinge nicht nur methodisch und funktionell zu erlernen, sondern um sie auch zu erfahren und zu verinnerlichen. Über emotionale Erfahrung entwickelt sich ein kreatives, mutiges Selbst - eine Voraussetzung dafür, dass sich wirkliche Begabung im späteren Leben auch durchsetzt", so Bergmann.

Eltern sollten den Umgang des Kindes mit schulischen und außerschulischen Anforderungen und Terminen sehr aufmerksam beobachten und auf mögliche Stress-Symptome achten. Denn nicht jedes Kind sagt, wenn es ihm zu viel wird. Kinder möchten es ihren Eltern meist recht machen und wenn die ihm signalisieren, das etwas wichtig ist, ist es sehr schwer für ein Kind zu sagen: "Nein, das ist mir zuviel."

Was zusätzlich zur Schule als festes Freizeitprogramm angeboten wird, sollte auch danach abgewogen werden, ob bei dem Angebot Leistung abgefordert wird oder ob das Kind selbst sagt: "Das ist für mich Spaß und Entspannung." Wichtig ist, dass es auch unverplante Nachmittage gibt, bei denen man sich mit Freunden treffen kann, Zeit zum Spielen hat oder sich einfach nur an einen ruhigen Ort zurückziehen kann.


Literatur:
Carl Honoré: Kinder unter Druck, Fackelträger Verlag 2008, 19.95 Euro.

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